Viele Spielhallen sind dicht, doch die Spielsucht bleibt

Um die Spielsucht einzudämmen, ließ die Politik Hunderte Spielhallen schließen. Gezockt wird nun zunehmend im Internet – und damit in der Illegalität.

London, Leipzig, Berlin. Es ist dieser Moment, wenn Quentin Tarantino dem Spieler in die Augen schaut. Der Moment, auf den hier jeder hofft, der auf dem breiten Ledersessel Platz nimmt, bequemer als im Business-Flieger, den „VIP“-Schriftzug über dem Kopf.

Rockmusik hämmert in die Ohren. Ein Knopfdruck, und schon rollen die Symbole der Slot-Maschine: Köpfe, Straßenschilder, Buchstaben. Nach einer Ewigkeit stoppt dreimal Tarantino, der Hauptgewinn, dazu flimmert eine Szene aus „From Dusk till Dawn“ über den Schirm, jener Horrorgroteske von 1996, in der sich der Kultregisseur durch ein Vampirbordell metzelt.

„Das ist unser Rolls-Royce“, sagt Christopher Röhricht, der bei Löwen Entertainment aus Bingen am Rhein das Marketing- und Produktmanagement verantwortet. Nun führt er die Besucher hier in London, auf der Gamingmesse ICE, in die andere Standecke der österreichischen Mutter Novomatic.

„Jetzt zeige ich Ihnen den Skoda“, sagt er und bleibt bei den Geräten für den deutschen Markt stehen. Hier gibt es keine Belohnungsvideos, keine Luxussessel, keine hohen Gewinne. Nur kompakte Automaten, auf denen das immer gleiche Spiel rattert. Mit Früchten, Bällen oder ägyptischen Symbolen.

„Es gibt Länder, in denen die Spiele Spaß machen“, sagt Röhricht. „Und es gibt Länder, in denen überreguliert wird.“ Länder wie Deutschland.

Die klassischen Automaten, in der Bundesrepublik immer noch mit Abstand das umsatzstärkste Glücksspiel-Segment, machen auf der ICE, der bedeutendsten Leistungsschau der Branche, nur noch einen kleinen Teil aus. Der Wachstumstreiber der Industrie ist wie allerorts die Digitalisierung. Im Internet wird heute so viel gezockt wie noch nie. Über Rechner, Tablet oder Smartphone sind Onlinecasinos, Pokertische und Sportwetten nur ein paar Wischer und Klicks entfernt.

Hier kann ohne Zeitlimits, ohne Einsatzvorgaben, ohne Restriktionen gespielt werden, zu Hause oder unterwegs, mit Bier oder Zigarette in der Hand. Im Jahr 2006 lagen die globalen Bruttospielerträge im Internet – also Umsätze abzüglich der ausbezahlten Gewinne – bei 15 Milliarden Euro. Zehn Jahre später ist der Wert auf 39 Milliarden gestiegen.

In Dänemark etwa macht das Onlinespiel schon mehr als ein Drittel des Gesamtmarkts aus. Auch in Großbritannien liegt der Anteil bei rund einem Drittel. Die Anbieter können eine Lizenz erwerben, zahlen Steuern, alles ganz legal.

In Deutschland bleibt Online-Glücksspiel bis auf wenige Ausnahmen verboten. Doch die Kritik in der Branche ist groß. Das Einzige, was die Politik damit erreicht, sagt Automaten-Manager Röhricht in London, ist, dass sie den Markt zerstört. „Die Spieler interessiert das doch alles nicht“, sagt er. „Die gehen dann eben in die Illegalität.“

Der wirtschaftliche Effekt der Glücksspielbranche ist immens. Insgesamt setzte der regulierte und damit legale Glücksspielmarkt in Deutschland zuletzt rund 35 Milliarden Euro um, wie das Handelsblatt Research Institute errechnet hat. Das ist etwa doppelt so viel wie der inländische Umsatz der Pharmaindustrie. Mehr als fünf Milliarden Euro an Steuereinnahmen werden in der Branche generiert, fast 200  000 Menschen sind hier beschäftigt.

Darüber hinaus ist ein Graumarkt entstanden, bei dem nicht zugelassene Anbieter mit Konzessionen aus dem EU-Ausland operieren. Sie sorgen für 2,3 Milliarden Euro an Bruttospielerträgen. Obendrauf hat sich ein Schwarzmarkt gebildet, der bei geschätzt 1,5 Milliarden Euro liegt – Tendenz steigend. Ohne Kontrolle, ohne Steuereinnahmen.

Der Glücksspieländerungsstaatsvertrag, auf den sich die Bundesländer 2012 geeinigt hatten, sollte das Glücksspiel eigentlich eindämmen, sollte die Spieler von der Sucht fernhalten. Und tatsächlich hat er den Markt auch nachhaltig verändert – jedoch nicht in die gewünschte Richtung. Hunderte Spielhallen mussten bereits schließen, Tausende stehen vor dem Aus, mit ihnen ebenso viele Mitarbeiter.

Von acht Spielhallen musste sie sechs schließen. Quelle: Handelsblatt, Christian Wermke
Beate Mai: Musste bereits sechs Spielhallen schließen.
(Foto: Christian Wermke)

Auch Beate Mai musste 15 Beschäftigten kündigen. Die elegante 67-Jährige mit den feinen Gesichtszügen mag so gar nicht ins Zockerklischee passen. Doch direkt vor ihrem Bürotrakt unweit des Leipziger Hauptbahnhofs liegt nun ein Automatenfriedhof. Gerät an Gerät; bei vielen laufen noch die Mietverträge. Aber Mai kann sie nicht mehr betreiben. Acht Spielhallen hatte sie, nur zwei sind ihr geblieben. Schuld sei die Regulierung der Politik, sagt sie. „Wir zahlen Steuern, haben sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen, aber werden gleichgesetzt mit Drogen und Prostitution.“

Zwei der Hallen musste Mai schließen, weil Sachsen seit 2012 einen Mindestabstand zu Schulen von 250 Metern fordert. Die anderen fielen der Streichliste zum Opfer, weil es keine Mehrfachkonzessionen mehr geben darf – also Standorte, an denen mehrere Spielhallen nebeneinander betrieben werden. Bis 2017 liefen noch Übergangsregelungen. Seit Kurzem sind auch die vorbei.

„Wir haben Energie ohne Ende verschwendet“, sagt Mai, die in ihrer alten Fünfer-Konzession steht. Von den ursprünglich fünf Spielhallen hier durfte nur eine bleiben. Erst 2006 habe Geschäftsführer Andreas Wardemann, der auch Hallen in Köln betreibt, in den Standort investiert. Er ließ das Großrestaurant entkernen, zog Zwischenwände ein, ließ Raucherbereiche bauen. Nun gibt es noch zwölf Automaten in einer Halle. In den vier anderen stehen Billardtische, Kicker, leere Getränkekisten.

Gerade Sachsen ist sehr restriktiv. „Amortisation von Investitionen, Langfristmieten – all das wird in der Härtefallregelung nicht berücksichtigt“, ärgert sich Wardemann. Auch in Köln muss er um sein Geschäft zittern: Nur für vier seiner zwölf Hallen hat er dort bisher eine Genehmigung. Mehr als 40 Prozent seiner Umsätze habe er verloren. Noch befindet er sich in Widerspruchsklagen. Doch die Erfolgschancen sind gering. „Die Kunden stehen hier oft in Dreiherreihen und warten“, sagt Mai. Viele gingen dann ins Internet, nach Tschechien oder in sogenannte Automaten-Cafés.

Sechs Cafés in einer Wohnung

Zum Beispiel an der Leipziger Eisenbahnstraße. Beate Mai spaziert regelmäßig durch das für Kriminalität und Rockerbanden berüchtigte Viertel im Osten der Stadt, um irritiert zu beobachten, was sich schon wieder verändert hat. Und tatsächlich hat ein neuer Laden eröffnet, den sie nicht kennt. Ein Name steht noch nicht an der Tür, nur die Werbung für die Automatenhersteller klebt schon auf der Fassade.

Besonders gemütlich ist es drinnen nicht, hinter einem Tresen langweilt sich ein türkischstämmiger Mann, daneben brummt ein Kühlschrank – und drei Spielautomaten rattern. Kaffee kann die Bedienung nicht anbieten. Einen Tee könne sie haben, sagt der Mann zu Mai. Sie bestellt eine Fanta, geht zurück in die Kälte. Sie hat genug gesehen.

Noch stärker auf die Spitze treibt es die Szene in Berlin. In der Hermannstraße in Neukölln reiht sich ein „Café“ ans andere. An der Fassade der Hausnummer 200 etwa wirbt das „Café Polat“ für Kaffeespezialitäten. Bestellen können Besucher diese jedoch nicht. Die Maschine auf dem Tresen? „Ach, die ist schon seit Monaten kaputt.“ Es gibt also gar keinen Kaffee? Doch, mit Pulver und Wasserkocher könne er einen machen, sagt der Mann in gebrochenem Deutsch. Im Hintergrund daddeln zwei Männer an Automaten. Direkt nebenan, in zwei anderen „Cafés“, das gleiche Bild: kein frischer Kaffee, der Kühlschrank fast leer, doch die Spielautomaten laufen einwandfrei.

Am Britzer Damm, Ecke Tempelhofer Weg, drei Kilometer weiter südlich, wird das System völlig ins Absurde geführt. Von einem Flur aus zweigen sechs Räume ab. Alle haben eigene Namen: „Wiener Café“ oder „Café Nizza“ steht über den hölzernen Türrahmen. Es gibt sechs Getränkekarten, sechs Bars, und 18 Automaten. Behandelt werden sie wie sechs Gaststätten, unter den Glücksspielstaatsvertrag fallen sie nicht.

Warum, das bleibt bisher ein Regulierungsrätsel. Denn im Berliner Spielhallengesetz ist definiert, dass ein Geschäft als Spielhalle zu werten ist, wenn „Art und Umfang der angebotenen Nebenleistung“ im Vergleich zu den Automaten eine „erkennbar untergeordnete Rolle“ spielt. Das Ordnungsamt müsste die Läden schließen. Aber die Kontrollen sind lax, es fehlt an Personal. Und so können die Betreiber ungehindert das Gewerberecht ausnutzen.

Bislang. Denn langsam bemerkt die Politik, dass sie womöglich in die falsche Richtung gesteuert hat. Die ersten Bundesländer wollen eine neue Regulierung der gesamten Branche. Spätestens im Sommer, bei ihrem nächsten Treffen, wollen sie darüber beraten.

Das Geschäft mit dem Glück ist voll von Widersprüchen, Fehlanreizen und Gesetzeslücken. Da gibt es Spielformen, die wie die Daddel-Automaten verteufelt werden, und andere wie Lotto, die zur DNA der Deutschen gehören wie der Tatort am Sonntagabend. Die Ziehung der Zahlen ist noch immer ein Primetime-Event, für das die ARD Sendezeit vor der Tagesschau opfert. Dabei ist die Chance auf den „6 aus 49“-Jackpot mehr als gering: 1 zu 139 Millionen.

Doch das Staatsmonopol ist sehr erträglich. Auf Spielerträge von 3,6 Milliarden Euro kommt allein der deutsche Lotto- und Totoblock, 1,2 Milliarden Euro an Steuern wandern in den Staatshaushalt, 1,6 Milliarden an gemeinnützige Zwecke. Auch mit Spielbanken, wo Roulette oder Poker, also das „Große Spiel“ angeboten wird, ist der Staat groß im Geschäft.

Der 2012er-Vertrag der Länder hatte hehre Ziele: die Spielsucht vermeiden, das Spielen in „geordnete Bahnen“ lenken, den Jugend- und Spielerschutz gewährleisten. In jedem Bundesland wurden die Vorgaben jedoch anders ausgelegt, mit unterschiedlichen Abstandsregeln und Härtefallregelungen. In Niedersachsen entschied am Ende der Zufall, welche Spielhalle schließen musste. Unternehmen wurden nicht nach Qualität bewertet, sondern per Los geschlossen. Glücksspiel, um Glücksspiel einzudämmen.

Schleswig-Holstein entschied sich 2012 für einen Sonderweg, öffnete den Markt für private Anbieter aus dem EU-Ausland bei Sportwetten, aber auch im Online-Glücksspiel. Erst 2013 trat Kiel dem Staatsvertrag bei – seitdem laufen für die konzessionierten Unternehmen Übergangsfristen, die ersten laufen in diesem Jahr aus. Zwar überprüfen die Anbieter beim Spielen die IP-Adresse des mobilen Geräts, auch Postadresse und Bankdaten werden abgeglichen. Doch die Blockaden lassen sich umgehen. Das Internetspiel endet nun mal nicht an der Landesgrenze.

Einige Bundesländer haben das realisiert. 98 Prozent der Spieleinsätze im Online-Glücksspielmarkt seien illegal, schreiben die Fraktionen von CDU und Grünen in einem Antrag an den Hessischen Landtag, der dem Handelsblatt vorliegt. Dies sei die Folge „einer am Spielverhalten der Bürgerinnen und Bürger vorbeigegangenen Regulierung“. Auch Nordrhein-Westfalen will den Onlinemarkt in die Regulierung miteinbeziehen, hat den neuesten Änderungsvertrag, der eigentlich seit Anfang 2018 gelten sollte, genau wie Schleswig-Holstein nicht ratifiziert. Weitere Länder denken darüber nach. Unter der Hand geben sie zu, dass das Lottomonopol nur zu halten ist, wenn alle anderen Spielformen mitreguliert würden.

Vor allem könnte nur dann das erklärte Hauptziel, die Spielsucht zu vermeiden, realistisch verfolgt werden. Wenn ein Angebot geschlossen wird, suchen sich Spieler bislang einfach neue Wege. So verwundert es nicht, dass die Zahl der Süchtigen seit Jahren konstant bleibt. Das wird wohl auch die Schließung von fast der Hälfte der Spielhallen nicht verhindern. Über diverse Studien hinweg liegt der Anteil der Deutschen, die zu pathologischem und problematischem Glückspiel neigen, zwischen 0,49 und 1,2 Prozent.

Es muss nicht Tarantino sein

Die Branche betont gerne, dass Alkohol und Zigaretten viel schneller abhängig machen als Glücksspiel. Dass Jugendliche ab 16 Jahren Bier kaufen dürfen – aber kein Rubbellos. Doch auch Spielsucht kann Existenzen zerstören, ganze Familien, im Extremfall in den Selbstmord treiben. „Die Branche verniedlicht und verharmlost“, sagt der Suchtforscher Gerhard Meyer von der Uni Bremen. Es sei nachgewiesen, dass von den Süchtigen ein Großteil der Einnahmen generiert werde.

„Und von allen Spielformen ist die Suchtgefahr beim Automaten am höchsten“, sagt der 65-Jährige. In Hessen, das als erstes Land die Möglichkeit einer Spielersperre eingeführt hat, hätten sich in den ersten 19 Monaten etwa 12 000 Spieler sperren lassen – fast alle freiwillig. „Nur ein Prozent der Anträge auf Sperrung kam dabei von den Spielstätten“, berichtet Meyer.

Georg Stecker unterstützt die Spielersperren. Der Vorstandssprecher der Deutschen Automatenwirtschaft propagiert die „Spielhalle der Zukunft“, vom Tüv zertifiziert, mit biometrischen Einlasskontrollen, geschultem Personal. Seit vier Jahren steht er an der Branchenspitze. Der 55-Jährige, breites Kreuz, Hände wie ein Metzgermeister, war 16 Jahre Lobbyist in der Güter- und Logistikbranche, davor wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Friedrich Merz, er will die Branche rausführen aus der Schmuddelecke.

Anfangs musste Stecker viele Scherben auffegen, die Paul Gauselmann, Automatenhersteller und Spielhallenbetreiber aus Ostwestfalen, der mit 83 Jahren noch immer an der Spitze seines Milliardenreichs waltet, über Jahrzehnte in den Verbänden hinterlassen hatte. Der Lottoblock, die Politik, die Suchtverbände – sie alle waren Gauselmanns erklärte Feinde. Stecker redet mit den Gegnern von einst. Auf dem Neujahrsempfang der Automatenwirtschaft in Berlin im Januar begrüßt er „ganz herzlich“ die Gäste der „anderen legalen Spielanbieter“. Sogar mit den Suchtverbänden gibt es Annäherungsversuche.

Stecker fordert von der Politik nun den ganz großen Wurf: „Wir wollen eine ganzheitliche Regulierung über alle Glücksspielangebote hinweg, die auch ausdrücklich das terrestrische Automatenspiel einbezieht.“ Ein nicht ganz uneigennütziger Vorschlag.

Die drei großen Automatenhersteller – Novomatic aus Österreich, Bally-Wulff aus Berlin oder eben Gauselmann – würden von einer neuen Regulierung profitieren. Längst haben sie Onlinepläne in der Schublade. Es muss ja nicht gleich ein Tarantino sein.

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