Unter den Toten und Verletzten des Anschlags von Nizza sind viele Kinder. Im nahegelegenen Krankenhaus Lenval kämpfen die Ärzte noch immer um fünf kleine Leben. Erlebnisse an einem bedrückenden Ort.
Nizza. Mit Taschen voller Kleidung und Sorgenfalten im Gesicht laufen Eltern die kleine Treppe zum Eingang hoch. Es ist Samstagmorgen, kurz nach 7 Uhr. Ein Mann vom Sicherheitsdienst steht vor dem Krankenhaus Lenval, einem weißen Betonklotz mit blau-violetten Fensterscheiben. Er hält jeden kurz an, durchsucht die Rucksäcke und Koffer. Reine Vorsichtsmaßnahme, sagt er. „Protégeons nos enfants!“ steht draußen am Eingang: „Beschützt unsere Kinder!“ Das Schild soll nur auf das Rauchverbot hinweisen.
Es passt aber auch zur Tragik dieses Ortes. Direkt an diesem Kinderhospital fuhr Donnerstagabend der Attentäter mit seinem Lastwagen vorbei. Die Rückseite des Gebäudes grenzt an die Promenade des Anglais, Nizzas im Herzen getroffene Flaniermeile.
Mehr als 50 Kinder wurden hier eingeliefert. Die Eltern kamen mit ihren Kindern auf dem Arm in die Notaufnahme gerannt, erzählt ein Mitarbeiter, der Nachtschicht hatte. Er stand oben auf dem Helikopterlandeplatz, als es passierte. Erst habe er noch ein Foto gemacht von dem Lkw, Sekunden später begann der Albtraum. „Ich sah, wie Menschen einfach umgefahren wurden“, sagt er und verzieht das müde Gesicht. „Ich frage mich, wie ein Mensch zu so etwas fähig ist.“
Er kann es immer noch nicht begreifen, es sei so surreal. Direkt vor dem Krankenhaus lagen zwei Tote, dazu viele Verletzte. „Ich habe eine Schwangere betreut, die weinend zu uns kam“, berichtet er. Sie sei gestürzt, als sie versuchte, vor dem Laster zu flüchten. „Sie klagte über Schmerzen im Bauch.“ Baby und Mutter seien wieder wohlauf. „Aber die Frau wird ihr Leben lang traumatisiert sein von diesem Erlebnis“, glaubt der junge Mann.
Zwei Kinder sind bereits im Krankenhaus gestorben. Noch immer sind 30 Jungen und Mädchen auf der Station. Fünf schweben weiterhin in Lebensgefahr, erklärt Stéphanie Simpson, die Sprecherin des Krankenhauses. Ein acht Jahre alter Junge sei zudem noch immer nicht identifiziert. Er komme möglicherweise aus Rumänien, bisher seien keine Angehörigen aufgetaucht.
Tarel Mesri hingegen ist seit der unfassbaren Tat immer wieder hier gewesen. Der 39-Jährige hat seine Frau bei dem Anschlag verloren. Sie sei direkt vom Lkw erfasst worden. „Neben ihr lag der Rucksack meines Sohns auf dem Boden“, sagt er. „Seitdem habe ich Kylal nicht mehr gesehen.“ Tränen schießen in seine müden Augen.
Seit Donnerstagmorgen ist er wach, mehr als 48 Stunden. Sein Sohn ist gerade einmal vier Jahre alt, er zeigt das kleine Passbild: Ein süßer Junge, volles dunkles Haar, breite Lippen, auf dem Foto lächelt er. „Wie kann ein Kind einfach so verschwinden?“, schreit sein Vater ungläubig und schlägt sich mehrmals stark gegen den Kopf.
Er war überall: in den Krankenhäusern, bei den Leichen auf der Promenade, bei der Anlaufstelle für Angehörige. Von Kylal keine Spur. „Ich wüsste lieber, dass er tot ist, als dass ich nie erfahre, was mit ihm passiert ist“, sagt Mesri. Dann winkt er ab, läuft wieder weg, Freunde müssen ihn stützen.
Aus dem Krankenhaus kommen jetzt Abdellah Kerdon und sein Sohn. Tara, neun Jahre alt, war mit seinen Eltern auf der Promenade, als der Anschlag passierte. Er hat alles gesehen, aus nächster Nähe. „Er hat kaum geschlafen heute Nacht“, sagt sein Vater. „Immer wieder hat er mich gefragt: Warum, warum?“ Um ihn zu beruhigen, spricht sein Vater von einem schlimmen Unfall, der Fahrer habe wohl Alkohol getrunken. Ihm die Wahrheit zu erzählen, bringt er nicht übers Herz. „Ich kann es nicht, er würde es nicht verstehen“, sagt der Italiener mit marokkanischen Wurzeln. Im Krankenhaus hat Tara mit einem Psychologen gesprochen. „Ich hoffe, dass wird ihm helfen für heute Nacht.“
Aus der Nachtschicht kommt gerade ein Arzt, er will nach Hause fahren. „Der Anschlag vom Bataclan in Paris kam mir so weit weg vor“, sagt er. Selbst, als er und seine Kollegen im Vorfeld der Fußball-EM, vor gerade einmal zwei Monaten, an einer Sicherheitsübung teilnehmen mussten, sei das sehr abstrakt gewesen. „Jetzt wissen wir: Es kann wirklich passieren.“ Seine Gewohnheiten, sein Leben will er trotzdem nicht ändern. „Man muss weitermachen“, sagt er und verschwindet in Richtung Tiefgarage.
Weitermachen. Das versucht Nizza auch an diesem zweiten Tag nach dem Anschlag. Schon am Morgen füllt sich die Promenade, wo mehr als 80 Menschen den Tod fanden, wieder mit Leben. Jogger und Fahrradfahrer trotzen der Sonne, Cafés und Restaurants haben ihre Stühle und Tische wieder auf die Straße gestellt. Die Polizei hat die Fahrstreifen stadtauswärts freigegeben. Stadteinwärts, auf der Seite der Lastwagen-Attacke, sind die Aufräumarbeiten noch im Gange. Wagen mit Kränen transportieren Zäune ab, die Straße wird mit Wasser gesäubert. Der von Einschusslöchern durchsiebte Lkw ist längst weg, die Leichen auch, genauso die weißen Plastikplanen, mit denen der Tatort von Blicken abgeschirmt war.
Auf der gesamten Länge der Straße liegen Blumensträuße auf dem Bürgersteig, dazu Plüschtiere, Kerzen, kleine Zettel mit Botschaften: „Vive la France“, „Wir stehen zusammen“, „Je suis Nice“. Die Promenade wird für immer eine Narbe tragen, die Stadt für immer mit dem Anschlag in Verbindung stehen. Aber die Menschen versuchen nach vorne zu schauen. Später am Tag füllen sich die Strände, Kinder planschen im Wasser, lachen, spielen. Ein paar von ihnen haben sich die Tricolore auf Wangen und Arme gemalt. Nur ein graues Militärboot, das vor der Küste patrouilliert, erinnert daran, dass die Welt hier aus den Fugen geraten ist.