Showdown in Bayern – der CSU droht ein Debakel

Verzweifelt kämpft die CSU gegen den Verlust der absoluten Mehrheit. Doch ihr droht genau wie der SPD ein historischer Absturz. Ein Stimmungsbericht aus Bayern.

Abensberg, Augsburg, Deggendorf, Peiting. Fast könnte einem Katrin Ebner-Steiner leidtun. Kaum hat die vierfache Mutter und stellvertretende Vorsitzende der Bayern-AfD ihren Wahlstand vor dem H&M-Geschäft in Deggendorf aufgebaut, zischen die ersten Passanten Feindseligkeiten in ihre Richtung.

Sie behält ihr Lächeln und fragt die Vorbeikommenden weiter, ob sie ihnen Infomaterial geben dürfe. „Sicher ned“, antwortet eine Frau. „Vo eich braunem G’sindel nimm i nix, des hat ma scho, des brauch ma nimmer“, brummelt ein älterer Herr, der im Bayerischen Wald gerade seinen Urlaub verbringt.

Doch der Schein vom ausweglosen Kampf der niederbayerischen AfD-Spitzenkandidatin trügt. Ausgerechnet in dem idyllischen 36.000-Einwohner-Städtchen, im Herzen der stolzen CSU-Festung Niederbayern, holte die Frau mit der weißen Perlenkette und der blauen Rüschenbluse bei der Bundestagswahl aus dem Stand 19,2 Prozent und damit das beste Ergebnis der Rechtspopulisten in ganz Westdeutschland.

Im Deggendorfer Wahllokal St. Martin erreichte die AfD 2017 sogar 31,5 Prozent und überholte damit die CSU. Dort betrachtet man die AfD als Fluch biblischen Ausmaßes. Als Heimsuchung des gelobten blau-weißen Landes, das die Christsozialen außer einer kurzen Unterbrechung seit 1962 mit absoluter Mehrheit und einem an Hybris grenzenden Selbstbewusstsein regieren.

Die CUS und Bayern. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was die Umfragewerte für die Partei von Ministerpräsident Markus Söder bedeuten. Bei kümmerlichen 33 Prozent verortet sie die aktuellste Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap für die ARD. Nach der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage würde die Regierungspartei nicht nur die absolute Mehrheit klar verfehlen. Rechnerisch wäre in Bayern sogar eine Viererkoalition gegen die CSU möglich – auch ohne Beteiligung der AfD.

Wenn die Bayern am 14. Oktober an die Urnen gehen, droht der CSU ein politischer Bedeutungsverlust, wie er noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien. Ein Debakel, das die Stellung der Partei auch in Berlin beeinträchtigen dürfte, wo die Atmosphäre zwischen den Unionsparteien ohnehin vergiftet ist wie selten zuvor.

Dass Angela Merkel ihren engen Vertrauten Volker Kauder nicht als Fraktionsvorsitzenden halten konnte, schwächt die Position der Partei vor der Landtagswahl zusätzlich, meint der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter.

Der anderen Volkspartei, der SPD, ergeht es noch schlechter. Behalten die Demoskopen recht, wäre sie gerade noch zweistellig und läge mit 11 Prozent nur noch hauchdünn vor der AfD, die zehn Prozent erreichen würde. Neben den Rechtspopulisten hätten vor allem die Grünen Grund zur Freude. Mit 18 Prozent wären sie zweitstärkste Kraft in Bayern.

Rhetorisch nahe an der AfD

Ein Streifzug durch die Provinz muss klären, weshalb die CSU sich nun dazu herablassen muss, über potenzielle Koalitionspartner nachzudenken. Denn die Statistiken können den Absturz der Partei nicht plausibilisieren. Bayern führt in puncto Sicherheit, Bildung und Arbeit die deutschlandweiten Rankings an, und auch die Wirtschaft brummt. In der Migrationsfrage hat sich die Parteispitze rhetorisch immer wieder der AfD angenähert. Es fielen Begriffe wie „Asyltourismus“ oder „Anti-Abschiebeindustrie“.

Zusätzlich sollten Maßnahmen wie eine bayerische Grenzpolizei, Söders Kruzifix-Erlass und Ankerzentren für schnellere Abschiebungen ein Signal an die von Rechtspopulisten aufgeschreckten Bürger senden. Trotzdem legte die AfD weiter zu, während die CSU an Unterstützung verlor. Liberale CSUler schickten ihre Parteibücher reihenweise zurück.

Wie angespannt die Situation ist, zeigt ein Brief, in dem CSU-Generalsekretär Markus Blume die 140.000 Mitglieder warnte, dass Bayern „politisch zersplittert und praktisch unregierbar“ werden könnte. Ein verzweifelter Mobilisierungsaufruf an die Basis. Die CSU muss dringend verhindern, dass sich die politische Konkurrenz weiter an ihrer Wählerbasis labt. Die Grünen etwa besetzen den Begriff „Heimat“ und drängen in die Mitte.

Wie sie zurück zu alter Stärke finden soll, darauf hat die CSU bislang keine befriedigende Antwort gefunden. Das zeigte sich auch beim traditionellen politischen Frühschoppen am Jahrmarkt Gillamoos im niederbayerischen Abensberg.

Es ist Anfang September. Etwa 4000 Zuhörer, die meisten in Tracht, haben ihren Weg ins CSU-Zelt gefunden, um die Rede zu hören. Darunter auch die Mitglieder eines lokalen Ortsverbands.

Sie führen eine erregte Diskussion über Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“. Eine 74-Jährige im Dirndl schlägt sich auf die Seite der Kanzlerin und ihrer Flüchtlingspolitik: „Hätt’s die Leit ned neiglassn, hätt’s a oane mitkriagt.“ Merkel wäre dann die Unmenschliche gewesen. Integration dauere nun einmal. Außerdem gehe es den Menschen in Bayern trotz der Flüchtlinge gut, die Arbeitslosigkeit sei niedrig wie nie. Karl Zausinger, lange Jahre Stadtrat in Rottenburg, widerspricht energisch.

Er verstehe zwar nicht, wie Bürger in Chemnitz mit Rechtsradikalen marschieren konnten. Aber auch er findet, „es gehert stärker durchgegriffen. Der Italiener, der olle glei wieder z’rucksckickt, der mocht’s richtig.“ Kriegsflüchtlinge dürften kommen, doch all die anderen Afrikaner, „di bringst nia zum Oarbeitn“.

In seiner Haltung ähnelt Zausinger denjenigen, die sich am Stand der Deggendorfer AfD-Kandidatin Ebner-Steiner politisch inzwischen besser aufgehoben fühlen. Die CSU muss sowohl die gemäßigt-bürgerlichen Wähler als auch die stockkonservativen Trachtenträger, die Zausingers ansprechen, wenn sie verhindern will, dass sie weiter an den Rändern ausfranst. Ein Spagat, der Söder an diesem Morgen im Hofbräuzelt alles abverlangen wird.

Die Festkapelle pumpt den bayerischen Defiliermarsch, als der Ministerpräsident das Festzelt betritt. Wie ein Stierkämpfer arbeitet sich der Landesvater im beigegrauen Trachten-Leinenanzug durch die Reihen, den Kopf gesenkt, die Nackenmuskeln gespannt. Er steigt auf die Bühne, greift sich das Pult und tut, was er am besten kann. Er transzendiert sich selbst und södert los: Er bietet dem Publikum nicht eine, sondern einen bunten Strauß an Positionen.

Politik wie aus dem Marketingkasten

Für die Zausingers lästert er über Berlin und seine flächendeckenden Islamkundepläne. Über die Vielehe, die muslimische Migranten nach Deutschland brächten, über die Grünen, die unbegrenzte Zuwanderung für Deutschland wollten. Über die gescheiterten Abschiebeversuche des Bin-Laden-Leibwächters. Als er ins Mikrofon ruft, „wer straffällig wird, muss das Land verlassen und zwar sofort!“, bebt das Zelt kurz.

Doch Söder ist lernfähig genug, um nun auch die Grenze zur AfD zu markieren. Schließlich hat es den Umfragewerten der Partei nicht geholfen, sich rechts anzubiedern. Am Gillamoos spricht er daher auch von „Humanität“ und dass in Bayern anders als in Berlin Flüchtlinge nicht auf der Straße schlafen mussten. Die Krawatte hat er jetzt vom Hals gelöst, er schwitzt.

Es folgen ein paar heftige Attacken in Richtung AfD, die eine geheime, vom Thüringer Björn Höcke geführte Agenda betreibe. Weil sich die Gesellschaft so stark polarisiert, brauche es laut Söder ein „politisches Zentrum“ – und das sei in Bayern die CSU.
Um das will sich Söder nun viel stärker kümmern. Doch nicht nur um das.

Söder denke auch an die alte Frau, die daheim den Mann pflege. An die Landwirte. An die Eltern kleiner Kinder. Ihnen zahlt die Landesregierung seit September 250 Euro Familiengeld. Söder verteilt Wohltaten und Streicheleinheiten wie Bonbons. Politik wie aus dem Marketingkasten.

Aber wird das reichen? Der Politologe Werner Weidenfeld hält solches „Stückwerk“ für Verzweiflungstaten. Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung in München, berät die Mächtigen überparteilich seit 1974. Die CSU habe keine Idee, wie es weitergehen soll, lautet sein Urteil. Söders 100-Punkte-Strategie sei das beste Beispiel. „Für jeden gibt es ein bisschen Geld, aber es fehlt eine Strategie und eine Idee, wie die Zukunft aussehen soll.“

Oder Söders Kruzifix-Erlass: Einen Behördenzwang für Kreuze müsse man „intellektuell vorbereiten“. Söder aber habe mit der Neuregelung derart aus der Hüfte geschossen, dass sogar die Kirchen verwirrt waren.

Die CSU unter dem Duo Seehofer/Söder lasse nicht nur Orientierung vermissen, kritisiert Weidenfeld. Der Dauerzwist zwischen den Alphatieren und Seehofers Clinch mit der Kanzlerin hätten die Partei zusätzlich geschwächt.

Inzwischen sei Streit zum Markenkern der Partei geworden, sagt Weidenfeld. Die Flüchtlingspolitik mag ein Katalysator gewesen sein, die wahre Ursache für den Wählerschwund bei der CSU sei ihr „querulantisches Markenprofil“. Auch der langjährige, streitbare CSU-Politiker Peter Gauweiler spricht von einem „unguten Zustand“.

Die CSU dürfte kaum trösten, dass sich die SPD in einem weit desolateren Zustand befindet. Die Roten hatten es im schwarzen Bayern zwar nie leicht. Gauweiler sagte dem Handelsblatt, die wahre Opposition in Bayern sei die „Süddeutsche Zeitung“ und nicht die Sozialdemokratie. Und Söder spottet am Gillamoos, er werde über die SPD nichts sagen, wie alle bedrohten Arten, genieße sie Schutz.

In der Tat: so schlecht wie im Moment stand es um die Partei in Bayern selten. Bei der Landtagswahl 2013 erreichte die Bayern-SPD noch 20,6 Prozent und damit kaum mehr als fünf Jahre zuvor, als sie das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte einfuhr. Nun ist sie selbst davon weit entfernt. Alles, was die CSU gerade an Prozentpunkten verliert, gewinnen offenbar die anderen Parteien – die SPD profitiert davon nicht.

Auf ihrer Wahlkampfveranstaltung am Augsburger Plärrer, dem kleinen Pendant zum Oktoberfest, zeigt sich das ganze rote Elend. Im größten Zelt am Platz, dem Binswanger, hat die Partei das Stüberl reserviert. Ein riesiges Separee für die rund 800 Augsburger Genossen. Alle wurden eingeladen, gekommen sind: knapp 50. Vorn auf der Bühne dudelt ein Alleinunterhalter, der Rest der Sitzbänke ist fast leer.

Natascha Kohnen, Bayerns SPD-Chefin steht tapfer vor den Genossen und ruft: „Jetzt heißt es Vollgas geben!“. Doch die wenigen Gäste verstehen sie kaum, die Musik übertönt sie. Kohnen gibt dem Musikanten auf der Bühne Zeichen, doch der sieht sie nicht. Nicht einmal die einfachsten Dinge wollen bei der SPD gerade funktionieren.

Als die Musik dann doch verstummt, baut sich Kohnen auf: „Es geht um eine Menge, darum, wie sich unser Land entwickelt“, sagt sie, gekleidet in Karo-Bluse und Jeans. Gerade habe sie den Rücktritt des Bundesinnenministers gefordert. Die Verharmlosung der Ereignisse in Chemnitz durch Horst Seehofer sei unerträglich. Die Genossen nicken. Doch Seehofer behielt sein Amt.

„Meine Bitte: Lauft, lauft, lauft!“

„Jedes SPD-Mitglied muss mindestens noch 30 bis 40 Leute rumkriegen“, ruft Kohnen in Augsburg. „Meine Bitte: Lauft, lauft, lauft!“ Kaum vorstellbar bei den Senioren, die sich dort versammelt haben. Auf die Frage, warum ihre Partei in den Umfragen so schlecht abschneide, sagt Kohnen später bei einem halben Hendl: „Es sind doch nur Umfragen.“ Sie setze auf die vielen Unentschlossenen. Vor etwas mehr als einem Jahr sagte Martin Schulz dasselbe – um bei der Bundestagswahl grandios zu scheitern.

Die SPD verliert weiter Wähler – sogar an die AfD. Ein älteres Ehepaar am Biertisch erzählt von Bekannten, die zu den Rechtspopulisten „rübergewandert“ seien. Gleiches berichten Besucher der CSU-Veranstaltung am Gillamoos. Wie viele Parteiaustritte die CSU verkraften musste, dazu äußert sich die Partei nicht. Seitens der Bayern-AfD heißt es, von den 5000 bayerischen AfD-Mitgliedern seien vorher zehn Prozent bei CDU, CSU oder Junger Union gewesen.

Ebner-Steiners Konkurrent in Deggendorf, Bayerns Kultusminister Bernd Sibler, gibt offen zu, wie ratlos er ist. Er „bringe es intellektuell nicht zusammen“, warum die AfD ausgerechnet im wohlhabenden Deggendorf so große Unterstützung bekomme. Natürlich hätten die zehntausend Flüchtlinge, die 2015 mit dem Zug im nahegelegenen Passau ankamen, mit der Situation zu tun.

Er hat zu diesem Zeitpunkt, es ist Ende August, seinen Stand fünfmal aufgebaut. Ebner-Steiner ihren 30 Mal. Trotz Schmierereien an ihrem Haus, trotz Morddrohungen. Sibler sagt, er betreibe genau wie seine Konkurrentin „Häuserwahlkampf“. Ebner-Steiner sagt, wenn sie in den Bayerischen Wald fahre, in Dörfer, die unter Landflucht leiden, klagten die Menschen, die CSU sei schon seit Jahren „nimmer do gwesn“.

Es sei ein Selbstläufer, sagt Ebner-Steiner, diese Leute von der AfD zu überzeugen. Dort schimpft man nicht nur über marode Brücken. Sondern auch über den „Drehhofer“, den „Heißluft-Horst“, dessen Pläne, wie die Rückweisung von Flüchtlingen an der Landesgrenze immer wieder von der Kanzlerin kassiert würden.

Sollte die CSU wie prognostiziert ein desaströses Wahlergebnis kassieren, würden sich die Pfeilspitzen der Partei auf Seehofer richten. „Und Söder wäre einer der Schützen“, ist CSU-Experte Oberreuter überzeugt. Ein Fiasko würde auch die Hessen-CDU bei der Landtagswahl schwächen – und damit die Kanzlerin weiter in Bedrängnis bringen. „Seehofer hätte uns fertigmachen können“, meint Ebner-Steiner. Doch sein „Umfallen“ gegenüber der Kanzlerin war für ihre AfD „Gold wert“.

Deren Marketing-Leute ersinnen lustvoll Plakat-Slogans wie „Straße würde AfD wählen“ oder „die AfD hält, was die CSU verspricht“. Dass die Rechtspopulisten die CSU-Gottheit Strauß für sich vereinnahmen, daran knabbern CSU-Funktionäre von der Isar bis zur Saale.

Und was tut die CSU? Statt die AfD inhaltlich zu stellen, strich Söder eine Podiumsdiskussion im Landtag mit Spitzenvertretern von SPD, Freien Wählern, Grünen, FDP und AfD. Es wäre der einzige Austausch dieser Art im Wahlkampf gewesen.

Im Festzelt am Gillamoos faltet Söder seine Krawatte, steckt sie in die Tasche, holt sie wieder heraus, um sein Gesicht zu trocknen. Die Leute sollen ihn kämpferisch erleben, aber zugleich gelassen.

Viel Anlass dazu hat er allerdings nicht. Laut einer Umfrage des Instituts GMS erreicht die Ablehnung der bayerischen Bürger gegenüber ihrer Staatsregierung einen neuen Höchststand: 55 Prozent sind unzufrieden mit der Arbeit von Markus Söders Kabinett.

Doch zu Söder, der die Bühne gar nicht mehr verlassen will, gibt es derzeit keine Alternative. Er ruft: „Wer glaubt denn Demoskopen?!“ Schließlich hätten die weder Donald Trump noch den Brexit vorhergesagt. Ein Zuschauer ruft klatschend: „Markus! Markus!“ Weil keiner mitmacht, verstummt der Mann schnell wieder. Darauf angesprochen, ob er noch an die absolute Mehrheit glaube, wird Söder nur wenig später sagen: „Ich glaube an den lieben Gott. Alles andere werden wir sehen.“

Co-Autorin: Anna Gauto

Dieser Beitrag wurde unter Handelsblatt, Politik abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.