Der ehemalige Außenminister läuft sich in Bonn als Hochschuldozent warm – und beleuchtet dabei direkt alle Konfliktherde.
Bonn. Mit einer dunkelblauen Mappe, vorn drauf der Bundesadler, ein Andenken aus Regierungszeiten, erklimmt Sigmar Gabriel die Stufen bis zum Rednerpult im Hörsaal I, Uni Bonn. Er schaut kurz in den voll besetzten Raum, holzvertäfelt, mittendrin im ehemaligen Kurfürstlichen Schloss, und holt sein Manuskript hervor.
„Das Völkerrecht befindet sich in der Krise“, sagt Gabriel. Die Russen hätten mit der Annexion der Krim die Souveränität der Ukraine verletzt. Das Pariser Klimaabkommen leide unter der Absage der USA. Die multilaterale Ordnung des internationalen Handels stecke in der Kritik.
Und die Herausforderungen passieren nicht nur in der Ferne, wie der Brexit gezeigt hätte. „Take Back Control“ (beim Brexit) und „Make America Great Again“ (bei Donald Trump) nennt Gabriel „die Schlachtrufe unserer Zeit“. Sie würden zeigen, dass es um die „Restauration einer vermeintlich guten alten Zeit“ geht. „Wir sehen eine Rückbesinnung auf Grenzen und die vermeintliche Stärke des Nationalstaats“, betont Gabriel.
Es ist die Antrittsrede des „Bundesministers des Auswärtigen a.D. der Bundesrepublik Deutschland“, wie Gabriel auf der Leinwand hinter ihm angekündigt wird. In seiner ersten Vorlesung redet der 58-Jährige über die großen Konfliktlinien, als sei er noch im Amt. In den nächsten Wochen wird Gabriel in Bonn auch ein Seminar geben.
Thema wie heute: die Außenpolitik. Der ehrenamtlichen Lehrtätigkeit an der Philosophischen Fakultät hatte er noch als Außenminister zugestimmt.
Gabriel, graublauer Anzug, weißes Hemd, rosarote Krawatte, noch immer eher staatsmännisch als professoral, spricht an diesem Montag viel über die Verantwortung Europas. Mehrmals betont er, wie wichtig gemeinsame Interessen sind, die die Mitgliedstaaten definieren müssten. „Europa kann nicht gestalten, solange es seine eigenen, europäischen Interessen nicht klar definiert hat.“
All die Herausforderungen, innerhalb wie außerhalb der EU, können die Mitgliedstaaten nur bewältigen, wenn „wir uns auf Augenhöhe und als Gleiche unter Gleichen begegnen“. Die Spaltung Europas sei gefährlich, weil dadurch andere Mächte ermuntert würden, uns zu testen. „Die Versuche der Destabilisierung an den Ostgrenzen der EU, in der Ukraine, im westlichen Balkan, im Umgang mit der Türkei, sind ebenso unübersehbar wie der wachsende Einfluss Chinas auf europäische Entscheidungsprozesse.“
Das Interesse an Gabriels erstem Dozentenauftritt ist groß. Neben Dutzenden Journalisten, Kameraleuten und Fotografen sitzen Rentner, Mittvierziger und vor allem Studierende im Saal. Auch die Empore ist bis zum letzten Platz besetzt. Von dort halten Studenten plötzlich zwei weiße Laken herunter. „Gegen Iran-Siggi! Für Israel!“, steht drauf.
Gabriel unterbricht seine Rede und sagt: „Sie müssen sich jetzt umdrehen, sonst sind die enttäuscht.“ Die Studenten schreien: „Warum arbeiten Sie mit Putin zusammen?“ „Warum verraten Sie die Kurden?“ „Wie können Sie nachts schlafen?“
Gabriel antwortet ganz ruhig: „In meiner Familie gibt es Ausschwitz-Leugner und Ausschwitz-Opfer.“ Wer in solch einer Familie groß werde, könne gar nicht anders, als ein intensives Verhältnis zu Israel zu entwickeln. „Das darf mich aber nicht daran hindern, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern zu kritisieren.“
Wieder ein Zwischenruf. „Hören Sie mal zu“, sagt Gabriel. „Wenn Sie an der Uni sind, müssen Sie sich angewöhnen, wenn Sie schon jemanden herausfordern, sich auch dessen Antworten anzuhören.“ Applaus im Saal. „Und ich hoffe, Sie kommen ins Seminar.“ Sie hätten keine Zulassung bekommen, schreit eine der jungen Frauen nach unten. „Ich lade Sie persönlich ein und hole Sie am Eingang ab“, kontert Gabriel.
Nach 35 Minuten spricht der ehemalige SPD-Chef ausgiebig über Syrien. Er nennt den dortigen Konflikt den „Höhepunkt des Vormarschs der drei alten Imperien“ – und meint damit Russland, den Iran und die Türkei. Die westliche Welt müsse sich dabei auch selbstkritisch betrachten.
„In den vergangenen sieben Jahren hat der Westen zu keiner Zeit eine vernünftige Relation seiner sehr ambitionierten Forderungen und der dafür eingesetzten Ressourcen zustande bekommen“, beklagt Gabriel. Dann zitiert er Theodore Roosevelt, der einmal sagte: „Speak softly and carry a big stick.“ Sprich sanft und trage einen großen Knüppel. „Unsere Syrienpolitik“, sagt Gabriel, „verfuhr eher nach dem gegenteiligen Motto: Sprich laut, aber trage einen kleinen Knüppel.“
In der vergangenen Woche habe sich gezeigt, wie schnell „dieser scheinbar regionale Konflikt zu einer wirklich weltweiten Krise werden könnte“. Die befürchtete direkte Konfrontation zwischen USA und Russland habe „Gott sei Dank“ nicht stattgefunden, weil beide Seiten aufgepasst hätten, sich nicht zu nahe zu kommen. „Was immer an schrillen öffentlichen Stellungnahmen aus Washington und Moskau vor und nach dieser Militäraktion zu hören war – die Backchannels haben offenbar funktioniert“, lobt Gabriel die Diplomaten beider Seiten.
„Immer mehr Regime scheinen bereit zu sein, sich über die wichtigsten internationalen Abkommen (…) hinwegzusetzen.“
Gleichzeitig geißelt er den Einsatz von Chemiewaffen durch das syrische Regime. „Wir werden gerade überall auf der Welt damit konfrontiert, dass kleine Verbrechen zu großen werden, weil die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, früh genug am Anfang eines völkerrechtswidrigen Konflikts einzugreifen.“
Auch die ständige Selbstblockade des UN-Sicherheitsrats sei mitverantwortlich dafür, ebenso wie die Zerstrittenheit des Westens und Europas. Die Folge: „Immer mehr Regime scheinen bereit zu sein, sich auch über die wichtigsten internationalen Abkommen des Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts hinwegzusetzen.“
Weder die Militäraktion vom vergangenen Wochenende werde das syrische Militär nachhaltig schwächen, noch ersetze sie die Notwendigkeit einer Syrienstrategie. „Schon zu Beginn des Konflikts war der gesamte Westen, Deutschland und Europa eingeschlossen, nicht bereit, wenigstens eine Flugverbotszone gegen die syrische Armee durchzusetzen, weil wir nicht in diesen Krieg hineingezogen werden wollten.“
Gabriel hält sich die meiste Zeit am Pult fest, liest viel ab, nur am Satzende schaut er in den Saal, ab und an benutzt er die Hände, um einige Wörter zu betonen. Mittlerweile weniger staatsmännisch und doch schon etwas professoraler skizziert er nun drei Modelle einer neuen Weltordnung.
Zum einen die „G-Nuller-Welt“, in der keine Nation mehr eine Führungsrolle einnimmt, es keine globale Agenda und Regeln mehr gibt. Die „G-Zwei-Welt“ wäre eine neue bipolare Ordnung mit den USA und China als die verbleibenden Supermächte. Und die dritte Option nennt Gabriel die „G-X-Welt“, in der es mehrere Pole gibt, weniger als bei den G20, wie wir sie heute kennen, und „sicherlich andere als bei den G7“.
Aber es gäbe dann immer noch verbindliche Regeln und Strukturen. „Es wird Sie nicht überraschen, dass die dritte Option meine bevorzugte wäre“, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln.
Egal, in welche Richtung sich die Welt auch entwickelt: In allen drei Modellen könnte die EU nur überleben, wenn sie „ihre eigenen Interessen definiert und ihre Macht projiziert“. Denn die Konkurrenz stehe schon bereit, um das Vakuum zu füllen, das der Westen hinterlässt. „In einer Welt von Fleischfressern hat man es als Vegetarier ziemlich schwer“, sagt Gabriel.
Als Beispiel führt er Russland an. Als Wladimir Putin jüngst in Sotschi weilte, besuchten ihn der syrische Präsident, dann der türkische, schließlich der iranische. „Die dort versammelten Mächte sind keine Freunde, aber sie haben einiges gemeinsam“, findet Gabriel.
Er spricht von einer Art „Großmachtsteuer“, die diese Länder für ihren Status bereit sind zu zahlen. „Sie nehmen wirtschaftliche Einbußen, diplomatische Ächtungen und finanzielle Bestrafungen in Kauf um den regionalen Führungsanspruch und die nationale Souveränität zu dokumentieren.“
„Sicherheit und Stabilität gibt es langfristig nur mit und nicht gegen Russland.“
Trotzdem sei es wichtig, zu allen Ländern Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die Verbindungen zur Türkei zu kappen, davor könne er nur warnen, sagt der Sozialdemokrat. „Das macht die Welt am Ende nicht sicherer.“ Und auch Russland sei weiter ein wichtiger Partner. „Sicherheit und Stabilität gibt es langfristig nur mit und nicht gegen Russland.“
Und die USA? Trump-Bashing sei einfach, aber die transatlantischen Beziehungen zu erhalten weitaus schwieriger – „und am Ende für uns Europäer überlebenswichtig“.
Zum Schluss ist er wieder bei Europa angelangt. Angesichts all der großen Aufgaben sei die derzeitige Aufstellung der EU „furchterregend“. „Wir gehen mit der EU um, als hätten wir noch eine zweite auf Lager“, findet Gabriel. Tragischerweise scheine die EU ausgerechnet in einer Phase, in der die Weltlage sie zu mehr Aktionen im Äußeren nötigt, „das innere Versöhnungsprojekt langsam verschleißen zu lassen“.
Gabriel will nun eine Schubumkehr. Um nicht in einigen Jahren hilflos vor den Trümmern der EU zu stehen. „Gerade in der Außenpolitik muss die Europäische Union über sich hinauswachsen.“ Machen wir uns nichts vor, sagt Gabriel am Ende: „Die Welt sieht Europa als reich, aber schwach an.“