Agenda Schulz

Martin Schulz umgarnt die SPD-Anhänger in Bielefeld mit sozialen Versprechungen – und rückt die Reformen in der Arbeitsmarktpolitik ins Zentrum. Damit nimmt die Partei endgültig Abschied von der ungeliebten Agenda 2010.

Bielefeld. SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel findet sich auf seinem Platz ein, auch Familienministerin Manuela Schwesig steht am Rande der Bühne. Doch Publikum und Kameras nehmen davon kaum Notiz. Alle warten sie hier auf den neuen Partei-Messias, auf die sozialdemokratische Erlösung, auf Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Die Stadthalle in Bielefeld ist bis auf den letzten Platz gefüllt, 750 Anmeldungen für die Arbeitnehmerkonferenz „Arbeit in Deutschland“, in kurzer Zeit ausgebucht. „Ist doch toll, so viel Andrang“, sagt die Moderatorin. Der ehemalige Bürgermeister aus Würselen, der EU-Mann Schulz bringt der SPD eine Popularität zurück, an die sie hier nicht mehr gewöhnt sind. „Das ist ja ein Auflauf wie 1998 bei Schröder“, staunt ein Genosse.

Und dann kommt er, sieben Minuten zu spät. Alle erheben sich von den Plätzen und applaudieren, als Schulz von drei Sicherheitsleuten flankiert in die Halle kommt. Er genießt den Auftritt, winkt, schaut in die begeisterten Gesichter. Stolz sei er, bald Parteivorsitzender zu sein, erklärt er. Demütig, angesichts von Vorgängern wie August Bebel oder Willy Brandt.

Schulz streichelt fleißig die sozialdemokratische Seele. Hinter ihm auf der Bühne steht ein Gerüst mit Putzeimer, Feuerwehr-Uniform, Betonmischer, Postkisten. Fotos von Krankenschwestern sind zu sehen, einer Friseurin, einem schwarzen Koch. Milieus, in die sich Schulz nach Jahren in der Brüsseler EU-Glocke in den vergangenen drei Wochen aufgemacht hat. Der Großverdiener Schulz will sich als Anwalt der kleinen Leute inszenieren, der hart arbeitenden Schicht, der verlorenen Mitte.

Kandidat Schulz: In Bielefeld streichelt er die sozialdemokratische Seele.
Foto: Wermke

„Ich rede unser Land nicht schlecht“, meint Schulz. Vieles sei gut und funktioniere wunderbar. „Aber das Erfolgsmodell hat Risse bekommen.“ Seit den 90er-Jahren habe sich die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt grundlegend verändert.

Ohne sie beim Namen zu nennen, kassiert Schulz damit Teile der Agenda 2010, dieses bei vielen Sozis verhassten Reformpakets unter Kanzler Gerhard Schröder: „Auch wir haben Fehler gemacht“, sagt Schulz. „Fehler zu machen ist nicht ehrenrührig.“ Wichtig sei: „Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden. Wir haben sie erkannt.“

Der Mindestlohn sei schon eine Konsequenz daraus gewesen. Aber es müsse noch viel weiter gehen: „Das Recht auf Teilzeit müssen wir ergänzen, damit die Rückkehr auf den alten Arbeitsplatz garantiert ist“, betont Schulz. „Wir werden auch die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen abschaffen.“ Tosender Applaus. Arbeitnehmer müssten auch besser abgesichert werden, schon aus „Respekt vor der Lebensleistung der Menschen“. Schulz fordert einen Kulturwandel in der Arbeitszeitpolitik. Den Menschen sollte mehr selbstbestimmte Arbeitszeit ermöglicht werden, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Bildung will er gebührenfrei machen, von der Kita bis zur Universität, die duale Ausbildung aufwerten.

Allianz mit den Gewerkschaften

Schulz rückt die Arbeitsmarktpolitik und die Gerechtigkeitsfrage ins Zentrum seines Wahlkampfs – und umgarnt damit auch die Arbeitnehmervertreter, die scharenweise im Bielefelder Publikum sitzen. Er spricht von einer „gemeinsamen Allianz zwischen der SPD und den deutschen Gewerkschaften“, um die Probleme im Land anzugehen.

Wahlkampftermin in Duisburg-Marxloh: Die kleinen Termine in der Provinz fallen ihm leichter.
Foto: Wermke

Mitbestimmung sei ein Zukunftsmodell. Leider hätten die Leute in vielen Chefetagen das noch nicht begriffen. „Wenn ich höre, mit welchen ekelhaften Methoden ganze Anwaltskanzleien beschäftigt werden, gegen Betriebsräte und Gewerkschafter vorzugehen – das hätte ich in Deutschland im 21. Jahrhundert nicht für möglich gehalten“, erklärt Schulz. Er fordert einen besonderen Kündigungsschutz für Initiatoren einer Betriebsratswahl. „Die Störung von Betriebsratsarbeit ist kein Kavaliersdelikt.“

Vollkommen frei hält der gestandene Rhetoriker seine Rede heute nicht. Oft muss er auf seine Zettel schauen, hält sich fast die ganze Zeit am Rednerpult fest. Immer wieder lässt er seine Worte nachhallen, schaut dann in die Halle, befeuchtet seine Lippen. Die kleinen Auftritte in der Provinz gingen ihm deutlich leichter von der Hand. Seit drei Wochen ist er unterwegs, tourt durch die ganze Republik.

Er habe viel dazugelernt, sagt Schulz. Was er nicht im Blick hatte: Die Lebenswirklichkeit vieler Deutscher. „Viele Paare sind Mitte 40, beide berufstätig, haben die Kinder noch im Haus – und müssen schon anfangen, ihre Eltern zu betreuen.“ Familien, die diese Doppelbelastung tragen und einen „großen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten“, dürften nicht psychisch, physisch und finanziell in die Knie gezwungen werden. „Wenn unser Land Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet in Milliardenhöhe, dann möchte ich nicht, dass dieses Geld für Steuergeschenke für hohe Einkommen verwendet wird – sondern dass sie investiert werden in die Entlastung von genau diesen Menschen.“

Lobeshymnen auf seine Parteikollegen

Auch die Herausforderungen der Digitalisierung spart Schulz nicht aus: „Die zunehmende Entgrenzung zwischen Privat- und Arbeitsleben lehnen wir kategorisch ab“, sagt er – und verweist auf Konzerne, die schon heute am Wochenende die Mobilgeräte ihrer Belegschaft abschalten. „Wir wollen aber auch, dass die Kombination von Maschine und Mensch nicht nur zur Effizienzsteigerung führt, sondern auch zu kürzeren Arbeitszeiten.“ Die Gewinnmaximierung müsse am Ende allen Mitarbeitern durch Tarifverträge zugutekommen.

Croissants bei der SPD in Bielefeld: Erst das Kleingedruckte lesen, dann essen.
Foto: Wermke

Lobeshymnen singt Schulz zuhauf an diesem Vormittag: auf den designierten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier („Ich kenne keinen besseren für dieses Amt“), Arbeitsministerin Andrea Nahles („Tolle Arbeit leistet sie“), Familienministerin Manuela Schwesig („Großer Dank für ihre exzellente Arbeit“), Hannelore Kraft („Sie hat Großartiges in NRW geleistet“).

Auch für seinen Kanzlerkandidaten-Macher, für Noch-Parteichef Sigmar Gabriel, hat er warme Worte: Es sei ein in der „Parteigeschichte der Bundesrepublik einmaliges Vorgehen“, dass ein amtierender Parteivorsitzender und Vizekanzler seine eigenen persönlichen Ambitionen zurück- und sie in den Dienst der Partei stelle. „Das ist eine große charakterliche Leistung“, lobt Schulz.

Den Namen Angela Merkel vermeidet er. Wenn Schulz die politische Konkurrenz erwähnt, spricht er nur von „der Union“, die in vielen politischen Fragen blockiere und mauere. Gerade beim Thema Grundsicherung im Alter zeige sich, „wie weit weg die Konservativen von den wahren Nöten der Menschen entfernt sind.“ Klare Worte findet er auch für Horst Seehofer: Es habe ihn schon irritiert, dass der CSU-Chef Donald Trump für seine besondere Tatkraft lobe. „Oder dass die CSULeute wie Victor Orban hofiert.“ Die Union sei gut beraten, sich auf die richtige Seite zu stellen.

Die Rechtspopulisten, jenseits und diesseits des Atlantiks, wollten nur die Angst vertiefen, statt sie abzubauen. „Wir verteidigen die Demokratie gegen die Hassprediger von Extremen“, betont Schulz. Auch die Medien nimmt er in Schutz. „Wer die freie Berichterstattung einschränkt, das kritische Hinterfragen der Positionen, wer sie als Lügenpresse bezeichnet – der legt die Axt an die Grundlagen der Demokratie.“

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