„Das Lebenswerk vieler Menschen ist bedroht“

Die Abgas-Affäre war für VW bislang eine Managementkrise. Doch der Skandal trifft auch die einfachen Mitarbeiter: Die Belegschaft ist wütend auf die Führung – ebenso die Zulieferer. Ein Stimmungsbericht aus Wolfsburg.

Wolfsburg. Nachhaltigkeit, das ist ihnen hier ganz wichtig in Wolfsburg. In der Autostadt, dem künstlich angelegten Biotop für Volkswagenkunden, die ihr neues Auto selbst abholen, will der Konzern zeigen, wie grün er ist. In der Ausstellung „Green Level“ können Besucher ihren ökologischen Fußabdruck messen, einen virtuellen Wasserbach plätschern sehen oder sich über die Fortschritte in der Technik informieren.

„Der Kunde erwartet weltweit die gleiche Qualität“, heißt es in einem Video, das den Besuchern in einem Kino vorgesetzt wird. „Wir haben die Verantwortung, unsere Standards in die ganze Welt zu tragen.“ Sogar der zurückgetretene VW-Chef Martin Winterkorn taucht kurz auf.

Auf einer digitalen Infowand wird über die Vorzüge von TDI-Motoren informiert. Sparsam seien sie, hätten eine sehr gute Leistung und „geringe Emissionen“. Es sind jene Dieselantriebe, die VWin seinen Autos verbaut – und dessen Manipulation den Konzern gerade in seine größte Krise gesteuert hat. Die Ausstellung, die Filmszenen, Winterkorn: Das alles wirkt überholt – von der Wirklichkeit.

Auch wenn VW in der Autostadt versucht, den Alltag vorzugaukeln: Es liegt Anspannung in der Luft. Und Unsicherheit. Vor allem bei den Mitarbeitern.

Sparsam, geringe Emissionen: Wie VW seinen TDI-Motor in der Autostadt beschreibt. Foto: Wermke

Es ist später Abend, die Kollegen der Spätschicht kommen gerade aus dem Werk am Mittellandkanal. Über Unterführungen gelangen sie auf die andere Uferseite, zu den Parkplätzen, zum Bahnhof. Die beleuchteten Treppenaufgänge sind kameraüberwacht. Mit Journalisten reden darf hier niemand. Die meisten winken ab, schütteln den Kopf, halten sich den Zeigefinger vor den Mund. Und die wenigen, die das Schweigegelübde brechen, nennen ihre Namen nicht.

Etwa 200 Meter von einem der Unterführungen entfernt steht eine Kneipe, die „Tunnel-Schänke bei Bruno“, beliebt bei VWlern. Der Mann, der hier mit seinem Feierabendbier und ein paar Kollegen steht, ist Mitte 30 und gehört zur Stammbelegschaft. Er ist immer noch fassungslos: „Mein Opa hat das Werk hier mit eigenen Händen aufgebaut“, sagt er. „Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was hier gerade passiert.“

Der Mann kommt aus einer reinen VW-Familie, nicht nur der Großvater arbeitete im Werk, auch sein Vater. Wolfsburg ist seine Heimat, Volkswagen auch. Er ärgert sich über die Konzernführung: „Die wollten auf Teufel komm raus die Nummer eins der Welt sein. Jetzt ist das Lebenswerk vieler Menschen bedroht, wegen einer dreisten Lüge.“

Mehr als 70.000 Menschen arbeiten im Wolfsburger Werk. Es ist die größte Industrieanlage in Europa. Drei Schichten werden gefahren, früh, spät, nachts. 3800 Fahrzeuge laufen hier jeden Tag vom Band: Golf, Golf Sportsvan, Touran, Tiguan.

Noch ist unklar, wie viele Milliarden Euro die Abgasaffäre den Konzern genau kosten wird. Noch ist unklar, ob VWPersonal einsparen muss. Die größte Unsicherheit spürt ohnehin nicht die Stammbelegschaft: Am meisten zittern gerade Zeitarbeiter, Zulieferer, Fremdfirmen.

Die größte Unsicherheit spüren die Fremdfirmen

„Als erstes wird es uns treffen, die externen Firmen“, sagt ein Mann in den Mittvierzigern. Er schüttelt ungläubig den Kopf, umklammert die Bierflasche mit seinen aufgeschlissenen Fingern. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er als Handwerker für eine Fremdfirma im Werk – so wie auch 5000 andere Männer und Frauen. „VW nimmt keine Rücksicht auf die kleinen Firmen“, sagt er. „Bei den nächsten Aufträgen werden die ordentlich am Preis drücken.“ Das Stammpersonal bekomme hingegen einen goldenen Handschlag. „Bei denen wird schon jetzt über Abfindungszahlungen diskutiert“, sagt der Mann.

Bei einigen Zulieferern und Dienstleistern spürt man die Konsequenzen der Krise schon jetzt. Das Speditionsunternehmen Schnellecke etwa hat einen Einstellungsstopp verhängt. „Man hat den Super-Gau immer im Hinterkopf“, sagt eine Frau, Anfang 30, die bei einer externen Logistikfirma arbeitet. Sie hat Angst vor der Zukunft – im Jahr 2017 würden viele der Dienstleisterverträge auslaufen. „Wenn VWhier kaputt geht, dann geht mit uns ganz Wolfsburg, ganz Niedersachsen kaputt“, sagt sie.

Schon immer eine Symbiose: Porsche-Büste vor dem Wolfsburger Rathaus. Foto: Wermke

VW und Wolfsburg, das war schon immer eine Symbiose. Ohne das Werk würde es die Stadt nicht geben, es ist ein Ort aus der Retorte. Doch so sehr die Stadt in guten Zeiten von VW profitierte, so sehr leidet sie jetzt in der Krise. 2014 nahm Wolfsburg mehr als 300 Millionen Euro Gewerbesteuer ein, der Großteil kam von VW und seinen Zulieferern. Kaum eine Stadt in Deutschland nimmt so viel Gewerbesteuer pro Einwohner ein – kaum eine ist so abhängig von einem Unternehmen.

„Der Stadt geht der Arsch auf Grundeis“, sagt ein Mann in der Fußgängerzone, die hier natürlich Porsche-Straße heißt. „Schulprojekte werden gestoppt, sämtliche Infrastrukturmaßnahmen auch. Es ist ein Trauerspiel.“

Der Bürgermeister hat in dieser Woche bereits eine Haushaltssperre verhängt. Neue Projekte sind tabu, laufende Projekte werden überdacht, neue Leute nicht mehr eingestellt. Doch niemand glaubt in Wolfsburg an ein zweites Detroit, wo der Untergang von General Motorsdie Stadt mit in den Ruin trieb. Die Bürger empören sich zwar über den bewussten Vertrauensbruch, über die gezielte Täuschung. „Aber VW baut ja trotzdem noch tolle Autos“, sagt eine Passantin. Und man habe hier auch schon Schlimmeres überstanden. „Wir kommen aus der Krise raus“, sagt sie. „Und das stärker als zuvor.“

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